#19 Das Gefühl

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Ja, ich war ziemlich im Zwiespalt, ob wir der Einladung zum Gottesdienst nachgehen sollten oder nicht. Keineswegs hatte ich Lust in eine Sektenmesse zu geraten, dann noch mit der gesamten Familie. Mein Mann hatte da aber keinerlei Bedenken. Er meinte nur: „Klar, kommen wir. Schickst du uns alle Details?“

Normalerweise ist er der kritische von uns beiden, da er einen ganz sensiblen Kompass hat. Er spürt meist von vornherein, welche Absichten die Menschen versuchen zu verbergen. Na dann, wenn sein Gefühl sagt, das machen wir, dann sollte ich vielleicht meine Vorurteile überdenken.

Gut, wir beschlossen also, an einem Gemeindetreffen teilzunehmen.

Doch erneut hat es einige Wochen gedauert, bis wir wirklich dort sein konnten. Einen Abend vor dem Gottesdienst war unser Sohn krank geworden und wir mussten absagen. Interessanterweise ging es ihm am Sonntagvormittag wieder, als wäre nichts gewesen. Das nächste Treffen war dann erst wieder in zwei Wochen. Dieses wollten wir nicht verpassen und ich hatte am Samstag auch fleißig Essen vorbereitet, da nach dem Gottesdienst alle gemeinsam zu Mittag essen. Daher bringt jeder etwas zum Buffet mit, egal ob herzhaft oder süß.

Alles war vorbereitet: Das Essen war gekocht, Groß und Klein waren angezogen, die Bustickets gebucht und bezahlt … doch wieder lag ein Stein im Weg. Egal, wie viele Taxifahrer ich auch angeschrieben habe, keiner antwortete. Wir mussten nämlich zum Busbahnhof, doch zu Fuß wären wir da etwa 45 Minuten unterwegs. Also keine andere Option, nur das Taxi.

Tja, dann schließlich schrieb mir doch ein Taxifahrer zurück und dann ein anderer und wieder einer, doch erst dann, als wir den Bus verpasst haben. Genial, oder? Es schien mir schon so, als würde uns etwas daran hindern wollen. Ich war echt fertig mit den Nerven. Da ist so ein Drang in mit, dort hinzugehen, doch warum ist das so kompliziert?

Wieder zwei Wochen später zog ich alle Register. Das Taxi war bereits einen Tag im Voraus reserviert, und das Busticket haben wir diesmal erst kurz vor der Abfahrt gekauft. Und dieses Mal lief auch alles entspannt. Die Busfahrt dauerte fast eine Stunde, ohne Umstieg, ganz bequem. Auch der Saal, wo der Gottesdienst stattfinden sollte, war nur einige Gehminuten vom Bahnhof entfernt.

Schon komisch, zu einem Treffen zu gehen, wo man niemanden kennt; selbst Sabine konnte an diesem Tag nicht kommen. Ach, in Uruguay ist ohnehin alles neu und wir kennen keinen, also was soll’s. So standen wir vor dem Gebäude und Tada, da spricht jemand Deutsch. Dann sind wir wohl richtig, dachte ich laut.

Wir wurden mit solch einer Herzlichkeit begrüßt und wahren Freude uns kennenzulernen … das ist mir höchst selten passiert. Stück für Stück versammelten sich mehr und mehr Leute; Paare jüngeren und älteren Kalibers, sowie Kinder und auch Einzelpersonen; überwiegend Einwanderer aus Deutschland. Wir wurden neugierig mit Fragen gelöchert und auch ich konnte mich kaum zügeln. Die Gespräche waren so einfach und fließend. Es tat gut sich über das neue Leben hier in Uruguay auszutauschen, mit Menschen, die einen ähnlichen Weg gehen.

Nach allerlei Geplauder begann auch der Gottesdienst, doch es war so anders als das, was ich vorher aus den Kirchen und Gemeinden kannte, dass ich vieles erst einmal auf mich wirken lassen musste. Theoretisch waren aber alle Bestandteile eines herkömmlichen christlichen Gottesdienstes vorhanden, wie der Gesang, Beten und Fürbitten, eine Andacht zu einem speziellen Thema und auch das Abendmahl.

Doch irgendwie lassen sich diese Gottesdienste trotzdem schlecht miteinander vergleichen. Ich liebe Musik und liebe es auch lauthals mitzusingen, doch meist waren die Lieder aus den Gesangbüchern der Kirche nicht besonders ansprechend, dann noch in Kombination mit der quietschenden Orgel.

Vielleicht liegt es auch an mir, dass ich eine Gitarrenbegleitung ansprechender finde, sowie Lieder, deren Text ich verstehen und fühlen kann. Bei diesem Gottesdienst habe ich zum ersten Mal verstanden, wofür der Gesang überhaupt da ist. Zuvor war ich der Meinung, dass die Lieder eher zur Auflockerung dienen sollten, doch mir war nicht bewusst, dass mit Gesang Gott gelobt und gepriesen werden sollte. Hier war das spürbar.

Jeder konnte etwas frei heraus beitragen und erzählen, welche kleinen und großen Wunder in der letzten Zeit passiert sind. Es war sehr familiär und locker. Insgesamt gab die Atmosphäre den ausschlagenden Unterschied. Denn ich habe dort etwas gefühlt, was ich sonst nie bei solch einem Treffen gefühlt habe: Liebe.

Liebe umgab den ganzen Raum. Sie war spürbar in der Musik, der Andacht und auch in jedem einzelnen Zeugnis und Gebet. So viel Liebe geballt in vier Wänden … trieb mir Tränen in die Augen. Und das hörte nicht mehr auf. Als wir das Gebäude verließen, veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. Dieses Gefühl der Liebe war weg und der Wirrwarr der Straßen war wieder vernehmbar.

Aber der Damm in meinen Augen war kurz vor dem Brechen, gerade weil dieses Gefühl verschwunden war. Ich verstand nicht, warum und auch nicht, wie.

Den ganzen langen Weg nach Hause versuchte ich alles zu verarbeiten, und als abends dann schließlich die Kinder im Bett lagen und mein Mann und ich über die Erlebnisse sprachen, brach der Damm. Ich konnte nicht mehr aufhören, zu weinen. Bis in die Nacht hinein konnte ich nicht aufhören. Es war nicht so, dass ich verletzt wurde und Schmerzen litt, sondern mir wurde etwas gezeigt, was ich mein ganzes Leben gesucht habe.

Hier geht es nicht speziell um die Menschen, die ich dort kennengelernt habe, und auch nicht um die Lieder, die gesprochenen Worte oder das nette Beisammensein beim Essen. Das ist alles nebensächlich. Ich habe solch eine tiefe, bedingungslose Liebe gespürt, die ich noch nie empfunden habe. Sie hat mich bis ins Tiefste meines Wesens berührt. Es war so, als wurde eine Tür in mir geöffnet.

Und die Fragen in meinem Kopf kreisten und kreisten, mal links- und mal rechtsherum: „War das Gott?“ Bin ich um die ganze Welt gereist, über unzählige Zufälle, Wunder und Glückstreffer gestolpert, um genau dort in diesem Raum festzustellen, dass Gott wirklich existiert? Oder waren das gar keine Zufälle, sondern Schritte, die ich gehen musste, damit, wenn ich dort bin, auch zu dieser Erkenntnis gelangen kann? Und wenn das nicht Gott war, woher kam dieses mächtige Gefühl der Liebe in mir, das mich nicht mehr losließ?

Mehr im nächsten Artikel.

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